In The Silence of the Girls erzählt Briseis, die ehemalige Königin von Lyrnessos, ihre Geschichte: Nachdem ihre Heimat im Trojanischen Krieg von den Griechen unter Agamemnon zerstört worden war, wurde sie, noch keine zwanzig und wunderschön, zur Kriegsbeute des Achilles. Gemeinsam mit den versklavten Mädchen und Frauen aus anderen unterworfenen Stadtstaaten lebt sie im Feldlager der Griechen vor Troja und fügt sich widerspruchslos in ihr Schicksal. Auf unterschiedliche Weise versuchen die Frauen, mit ihrer Situation zurechtzukommen, gemeinsam ist ihnen der Wille zu überleben. Die vielbesungenen griechischen Helden präsentieren sich dabei nicht als edle Kämpfer, sondern als rücksichtslose Chauvinisten, einzig Achilles‘ bester Freund Patrokles zeigt Mitgefühl für das Schicksal der Sklavinnen. Von den anderen werden sie im besten Fall nur benutzt, im schlimmsten Fall gedemütigt und gequält. Nicht einmal als der Vater der 15-jährigen Criseida mit einem beachtlichen Lösegeld ins Lager kommt und um Freiheit für seine Tochter fleht, lässt Agamemnon Menschlichkeit walten. Daraufhin ruft der Priester Apollo an, er möge den Griechen die Pest schicken. Apollo erfüllt diesen Wunsch, und Achilleus verlangt von dem ihm verhassten Agamemnon, Criseida zu ihrem Vater zurückzuschicken, um den Fluch aufzuheben. Dadurch eskaliert der Konflikt zwischen den beiden Männern, und Briseis wird zum Faustpfand in diesem Streit.
Meine Meinung: Nacherzählungen mythologischer Geschichten sind eines meiner Lieblingsgenres, daher stach mir dieser Titel aus der Longlist des diesjährigen Women’s Prize for Fiction sofort ins Auge, und ich habe ihn noch rasch gekauft, bevor meine Bücherfastenzeit begann.
Pat Barker lässt Briseis ihre Geschichte mit bitterer Lebenserfahrenheit und analytischer Beobachtungsgabe erzählen und liefert so das Bild einer Situation, in der die Frauen den Männern vollkommen ausgeliefert sind, so wie sie schon ihren Vätern und Ehemännern ausgeliefert gewesen waren. Die Sprache, die sie für ihre Erzählung verwendet, ist die der Gegenwart, und Kristin Atherton geht in ihrer Präsentation des Audiobooks noch einen Schritt weiter: Sie lässt die Frauenfiguren in verschiedenen englischen Akzenten sprechen. Das fand ich zwar überraschend, aber sehr gelungen. Parallel zur Erzählung der Briseis werden Teile der Geschichte auch aus männlicher Sichtweise präsentiert, im Hörbuch gelesen von Michael Fox.
In der Welt, von der Briseis berichtet, haben Frauen keine Stimme. „Einem Mädchen geziemt es zu schweigen“ haben sie nicht erst nach ihrer Versklavung zu hören bekommen, sondern schon von frühester Jugend an. Sie haben kein Mitspracherecht bei Entscheidungen über ihr Leben, und ihr Wert richtet sich, sowohl als Ehefrau als auch als Sklavin, allein danach, ob sie Mutter eines Sohnes geworden sind. Briseis weiß, wie Männer ticken, aber sie verwendet dieses Wissen nicht, um ihre eigene Situation zu verbessern, und sie macht auch sonst keinen Versuch, gegen ihr Schicksal anzukämpfen, so, als wären die Befehle der Männer und die Gesetze des Krieges Naturgesetze. Es war schwer für mich, ihr dabei zuzusehen, aber Pat Barker ist es gelungen, mir dieses Verhalten zumindest glaubhaft zu machen. Ebenso hat sie es geschafft, die kranke Logik der Kriegsführung und die seltsamen Ehrbegriffe der am Krieg beteiligten Männer so zu beschreiben, dass sie als Motive für deren Taten plausibel werden. Dabei erzählt sie eine spannende Geschichte, mit der sich die Man Booker-Preisträgerin von 1995 den Aufstieg in die nächste Runde des Women’s Prize for Fiction meiner Meinung nach mehr als verdient hat.
Auf der Longlist steht auch noch ein zweiter Roman, in dem es um eine Frauengestalt aus der griechischen Mythologie geht. Madeline Millers Version des Lebens der Circe. Bevor ich den in Angriff nehme, muss ich aber wohl noch Millers Debütroman Das Lied des Achill (The Song of Achilles) lesen. Nach Ostern werde ich mir anschauen, ob die Helden von Troja darin besser wegkommen.
Pat Barker, The Silence of the Girls. Als Audiobook gelesen von Kristin Atherton und Michael Fox. Penguin Books Ltd. 2018. 10 h 44 min.