Surviving Hurricane Katrina

Bois Sauvage, Mississippi, August 2005. Die 15-jährige Esch hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist, und sie weiß, dass sie keine Hilfe zu erwarten hat. Ihre Beziehung zum Vater des Babys ist eine einseitige Liebe, ihre Mutter ist sieben Jahre zuvor bei der Geburt ihres jüngsten Bruders verblutet,  der älteste Bruder Randall konzentriert sich auf seine Hoffnung, über ein Football-Stipendium ans College zu kommen, Skeetha, der Zweitälteste, interessiert sich nur für seine Pitpull-Hündin China und deren Welpen, und  die Gedanken ihres Vater kreisen, vorausgesetzt, er ist nüchtern genug, darum, wie das desolate Haus der Familie ohne ausreichende Mittel auf einen Tropensturm vorbereitet werden kann, von dem noch niemand weiß, dass er als Hurricane Katrina 1.833 Todesopfer fordern wird, 238 davon in Mississippi. In Salvage the Bones (Vor dem Sturm) beschreibt Jesmyn Ward  die Geschehnisse an den zwölf Tagen vor und während der Katastrophe aus Sicht des Mädchens. Esch beobachtet die Veränderungen ihres Körpers, erinnert sich  immer wieder an ihre liebevolle Mutter und sucht Analogien zwischen ihrem Schicksal und jenem der Gestalten aus der Griechischen Mythologie, allen voran der Zauberin Medea.

Meine Meinung: Über ein Jahr lag Jesmyn Wards Roman auf meinem SuB, nachdem ich während des #BlackHistoryMonth 2018 darauf aufmerksam wurde und das  Buch sofort haben musste. In den heurigen Osterferien holte ich es dann endlich hervor. 260 Seiten seien sicher schnell gelesen, dachte ich, aber dem war dann nicht so. Einerseits erforderte der afroamerikanische Südstaatenslang, in dem Esch die Dialoge wiedergibt, meine volle Aufmerksamkeit, andererseits ist der Inhalt so intensiv, dass ich immer wieder Pausen einlegen musste. Eschs Familie lebt unter schwierigsten Bedingungen, es gibt zwar zu essen und ein Dach über dem Kopf, aber das war’s. Seit dem Tod der Mutter sind die Kinder weitgehend auf sich alleine gestellt, und so ist auch niemand da, der Esch davor schützen könnte, sich von den Jungs der Umgebung benutzen zu lassen, oder ihre Brüder vom Stehlen abhalten würde. Aber die Kinder haben doch ein gewisses Rüstzeug mitbekommen: sie gehen regelmäßig zur Schule und haben dadurch ihre Zukunftschancen nicht verspielt, sie putzen sich die Zähne und sie wechseln täglich ihre Wäsche. Das Wäschewaschen übernimmt Esch, und es ist das Symbol für das Nachwirken der Fürsorge der Mutter. Jesmyn Ward erzählt, wie eine kleine Familie von Katastrophenstürmen gebeutelt wird und wie sie sich unbeholfen, aber doch, vor dem Allerschlimmsten zu schützen versucht. Das geht unter die Haut. 

Jesmyn Ward, Salvage the Bones. Bloomsbury Paperbacks 2011, 260 Seiten. 

In deutscher Übersetzung von Ulrike Becker: Vor dem Sturm. Ullstein Taschenbuch 2015. 320 Seiten. 

Im Umbruch

J.M. Coetzee, der heurige Ehrengast von Literatur im Nebel, wurde, wie Peter Carey und Hilary Mantel, bereits zweimal mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. 1983 erhielt er den Preis für Life & Times of Michael K (Leben und Zeit des Michael K.), 1999 für Disgrace (Schande). Darin erzählt er von David Lurie, einem alternden Literaturprofessor, der nach einer Affäre mit einer Studentin seine Stelle an der Technischen Universität von Cape Town verliert, da er nicht bereit ist, sich für sein Fehlverhalten angemessen zu entschuldigen. Statt dessen packt er seine Koffer und fährt zu seiner Tochter Lucy, die mit einer kleinen Farm ihren Lebensunterhalt verdient. Er verrichtet Hilfsarbeiten auf der Farm und auf einer Tötungsstation für Hunde und möchte ein Buch über Lord Byron schreiben. Sein neues Leben verläuft zunächst ruhig, aber dann wird die Farm von drei Männern überfallen und Lucys Reaktion auf die Gewalt fällt ganz anders aus als er es erwartet hätte.

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Peter Lohmeyer liest aus Schande

Meine Meinung: David Lurie ist nach seiner Entlassung und erst recht nach dem Überfall mit Fragen konfrontiert, mit denen er sich zuvor vermutlich wenig auseinandergesetzt hat. Er hatte seine Privilegien als weißer akademisch gebildeter Mann genossen und von sich selbst das Bild eines toleranten, kultivierten Intellektuellen. Entlassen wurde er nicht wegen der Affäre selbst, sondern weil er sich weigerte, den  Übergriff auf die Studentin als solchen anzuerkennen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Statt dessen begreift er sich als in die Jahre gekommener Diener Amors, der lieber ins Exil geht als zu Kreuze zu kriechen. Dieses Exil ist allerdings auch kein geeigneter Rückzugsort, denn er wird dort mit den veränderten Realitäten seines Leben und seines Landes konfrontiert. Die Geschichte, die J.M. Coetzee erzählt, spielt wenige Jahre nach Ende des Apartheideregimes. Lucys Helfer Petrus ist keine rechtlose Hilfskraft mehr, sondern gerade dabei, sein eigenes Farmhaus zu bauen und sich zu emanzipieren. Ihr Nachbar Ettinger fühlt sich durch die neuen politischen Gegebenheiten in seiner Existenz bedroht und hat das Gewehr immer griffbereit.  Lucy selbst hingegen nimmt die Veränderungen an und ist bereit, den Preis zu zahlen, den es kostet, in einer Heimat bleiben zu können, die von ihren Vorfahren mit Gewalt akquiriert und viele Jahre lang ausgebeutet wurde. 

Coetzee schreibt nicht von „Weißen“ und „Schwarzen“ und ist auch sonst in seiner Wortwahl zurückhaltend, aber trotzdem ist klar, wer welcher ethnischen Gruppe angehört und worum es geht. Der Autor verwendet Symbole und  Analogien, ohne dass dies konstruiert oder aufgesetzt wirkt. Er weckt für keine der handelnden Personen besondere Sympathien, aber es gelingt ihm, ihre für die Umgebung wie die Leserin überraschenden Entscheidungen verständlich zu machen. Ein unaufgeregtes, aber schonungsloses Portrait eines Mannes und eines Landes im Umbruch und einer jungen Frau, die weiß, wie sie diesen Umbrüchen begegnen möchte.

J.M. Coetzee, Disgrace. Vintage Books London 2000. 220 Seiten.

In Deutscher Übersetzung von Reinhild Böhnke: Schande. FISCHER Taschenbuch 2001. 288 Seiten.