Das Lied des Patroklos

Als Sohn des Königs Peleus und der Nymphe Thetis ist Achilleus nicht nur ein Prinz, sondern auch ein Halbgott, und er ist sich seiner Position und seiner Fähigkeiten schon als Kind bewusst. Im Gegensatz dazu ist Patroklos, der von seinem Vater Menoitios an den Hof des Peleus geschickt wurde, nachdem er den Tod eines Spielkameraden zu verantworten hatte, zurückhaltend und schüchtern und nicht als einziger überrascht, als Achill ihn zu seinem Gefährten macht. Sehr bald sind die beiden mehr als nur Freunde, werden gemeinsam vom Kentauren Chiron in Kriegs- und Heilkunst unterrichtet und ziehen als 16-Jährige gemeinsam in den Krieg gegen Troja. Thetis will ihren Sohn weder an der Seite eines anderen Mannes noch als Krieger sehen, aber ihre Macht reicht nicht aus, um Achill an eine Frau zu binden oder ihn vor der Prophezeiung zu bewahren, sein Leben werde ruhmreich aber kurz sein.

Meine Meinung: Die Sagen der griechischen Mythologie sind eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Autor*innen aller Epochen und aller Literaturgenres, und die Geschichten der Helden des Trojanischen Krieges sind  besonders beliebte Motive, die in unterschiedlichsten Varianten und Interpretationen nacherzählt werden. Während Pat Barker den Kampf um Troja in The Silence of the Girls aus Sicht der Sklavin Briseis erzählt, lässt Madeline Miller Das Lied des Achill von Patroklos, dem Gefährten des größten aller Krieger, singen. Bei Barker kommen die Männer alles andere als gut weg,  auch wenn Briseis in ihrer Schilderung der Brutalitäten gegen sie und die anderen Sklavinnen einräumt, Patroklos sei ihr gegenüber sanfter und verständnisvoller aufgetreten als seine Mitstreiter und Gegner.

Diesen weichen Patroklos macht Miller nun zur zentralen Figur, und von ihm erfahren wir, wie seine Freundschaft zu Achill begann und wie die beiden ihre Beziehung vor aller Augen und gleichzeitig im Geheimen führen. Homosexualität ist in seiner Welt für Knaben auf dem Weg zum Erwachsenwerden zulässig, für Männer im heiratsfähigen Alter aber dennoch ein Tabu, und Thetis scheint noch ihre ganz persönlichen Gründe zu haben, Patroklos das Leben so schwer wie möglich zu machen. Sie ist nicht die über den Dingen stehende Göttin, sondern eine eifersüchtige Mutter, die mehr oder minder hilflos dabei zusehen muss, wie ihr Sohn an das irdische Leben, seine Verlockungen und seine Gefahren verloren geht. Das hat mir an dieser Erzählung besonders gut gefallen: Alle  handelnden Personen, ob Göttin oder Kriegsheld, sind in erster Linie Charaktere mit Stärken und Schwächen, geleitet von profanen Gefühlen und Vorlieben, nicht von den hehren Ansprüchen einer Welt der Helden und des Übernatürlichen, und auch die übernatürlichen Phänomene werden, soweit das möglich ist, in einer Welt des Realen verankert. Gleichzeitig singt Patroklos hier das Lied seiner großen Liebe, nicht frei von Pathos und zugegebenermaßen haarscharf am Kitsch vorbei, aber so, dass ich den Roman als romantische Lovestory in Erinnerung behalten und mir die Hörbuchfassung von Frazer Douglas gerne immer wieder anhören werde.

Madeline Miller, The Song of Achilles, HarperAudio 2012, gelesen von Frazer Douglas, 11 h 15 min.

In deutscher Übersetzung von Michael Wildgassen: Das Lied des Achill. Eisele Verlag 2020.

 

Surviving Hurricane Katrina

Bois Sauvage, Mississippi, August 2005. Die 15-jährige Esch hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist, und sie weiß, dass sie keine Hilfe zu erwarten hat. Ihre Beziehung zum Vater des Babys ist eine einseitige Liebe, ihre Mutter ist sieben Jahre zuvor bei der Geburt ihres jüngsten Bruders verblutet,  der älteste Bruder Randall konzentriert sich auf seine Hoffnung, über ein Football-Stipendium ans College zu kommen, Skeetha, der Zweitälteste, interessiert sich nur für seine Pitpull-Hündin China und deren Welpen, und  die Gedanken ihres Vater kreisen, vorausgesetzt, er ist nüchtern genug, darum, wie das desolate Haus der Familie ohne ausreichende Mittel auf einen Tropensturm vorbereitet werden kann, von dem noch niemand weiß, dass er als Hurricane Katrina 1.833 Todesopfer fordern wird, 238 davon in Mississippi. In Salvage the Bones (Vor dem Sturm) beschreibt Jesmyn Ward  die Geschehnisse an den zwölf Tagen vor und während der Katastrophe aus Sicht des Mädchens. Esch beobachtet die Veränderungen ihres Körpers, erinnert sich  immer wieder an ihre liebevolle Mutter und sucht Analogien zwischen ihrem Schicksal und jenem der Gestalten aus der Griechischen Mythologie, allen voran der Zauberin Medea.

Meine Meinung: Über ein Jahr lag Jesmyn Wards Roman auf meinem SuB, nachdem ich während des #BlackHistoryMonth 2018 darauf aufmerksam wurde und das  Buch sofort haben musste. In den heurigen Osterferien holte ich es dann endlich hervor. 260 Seiten seien sicher schnell gelesen, dachte ich, aber dem war dann nicht so. Einerseits erforderte der afroamerikanische Südstaatenslang, in dem Esch die Dialoge wiedergibt, meine volle Aufmerksamkeit, andererseits ist der Inhalt so intensiv, dass ich immer wieder Pausen einlegen musste. Eschs Familie lebt unter schwierigsten Bedingungen, es gibt zwar zu essen und ein Dach über dem Kopf, aber das war’s. Seit dem Tod der Mutter sind die Kinder weitgehend auf sich alleine gestellt, und so ist auch niemand da, der Esch davor schützen könnte, sich von den Jungs der Umgebung benutzen zu lassen, oder ihre Brüder vom Stehlen abhalten würde. Aber die Kinder haben doch ein gewisses Rüstzeug mitbekommen: sie gehen regelmäßig zur Schule und haben dadurch ihre Zukunftschancen nicht verspielt, sie putzen sich die Zähne und sie wechseln täglich ihre Wäsche. Das Wäschewaschen übernimmt Esch, und es ist das Symbol für das Nachwirken der Fürsorge der Mutter. Jesmyn Ward erzählt, wie eine kleine Familie von Katastrophenstürmen gebeutelt wird und wie sie sich unbeholfen, aber doch, vor dem Allerschlimmsten zu schützen versucht. Das geht unter die Haut. 

Jesmyn Ward, Salvage the Bones. Bloomsbury Paperbacks 2011, 260 Seiten. 

In deutscher Übersetzung von Ulrike Becker: Vor dem Sturm. Ullstein Taschenbuch 2015. 320 Seiten. 

Im Umbruch

J.M. Coetzee, der heurige Ehrengast von Literatur im Nebel, wurde, wie Peter Carey und Hilary Mantel, bereits zweimal mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. 1983 erhielt er den Preis für Life & Times of Michael K (Leben und Zeit des Michael K.), 1999 für Disgrace (Schande). Darin erzählt er von David Lurie, einem alternden Literaturprofessor, der nach einer Affäre mit einer Studentin seine Stelle an der Technischen Universität von Cape Town verliert, da er nicht bereit ist, sich für sein Fehlverhalten angemessen zu entschuldigen. Statt dessen packt er seine Koffer und fährt zu seiner Tochter Lucy, die mit einer kleinen Farm ihren Lebensunterhalt verdient. Er verrichtet Hilfsarbeiten auf der Farm und auf einer Tötungsstation für Hunde und möchte ein Buch über Lord Byron schreiben. Sein neues Leben verläuft zunächst ruhig, aber dann wird die Farm von drei Männern überfallen und Lucys Reaktion auf die Gewalt fällt ganz anders aus als er es erwartet hätte.

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Peter Lohmeyer liest aus Schande

Meine Meinung: David Lurie ist nach seiner Entlassung und erst recht nach dem Überfall mit Fragen konfrontiert, mit denen er sich zuvor vermutlich wenig auseinandergesetzt hat. Er hatte seine Privilegien als weißer akademisch gebildeter Mann genossen und von sich selbst das Bild eines toleranten, kultivierten Intellektuellen. Entlassen wurde er nicht wegen der Affäre selbst, sondern weil er sich weigerte, den  Übergriff auf die Studentin als solchen anzuerkennen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Statt dessen begreift er sich als in die Jahre gekommener Diener Amors, der lieber ins Exil geht als zu Kreuze zu kriechen. Dieses Exil ist allerdings auch kein geeigneter Rückzugsort, denn er wird dort mit den veränderten Realitäten seines Leben und seines Landes konfrontiert. Die Geschichte, die J.M. Coetzee erzählt, spielt wenige Jahre nach Ende des Apartheideregimes. Lucys Helfer Petrus ist keine rechtlose Hilfskraft mehr, sondern gerade dabei, sein eigenes Farmhaus zu bauen und sich zu emanzipieren. Ihr Nachbar Ettinger fühlt sich durch die neuen politischen Gegebenheiten in seiner Existenz bedroht und hat das Gewehr immer griffbereit.  Lucy selbst hingegen nimmt die Veränderungen an und ist bereit, den Preis zu zahlen, den es kostet, in einer Heimat bleiben zu können, die von ihren Vorfahren mit Gewalt akquiriert und viele Jahre lang ausgebeutet wurde. 

Coetzee schreibt nicht von „Weißen“ und „Schwarzen“ und ist auch sonst in seiner Wortwahl zurückhaltend, aber trotzdem ist klar, wer welcher ethnischen Gruppe angehört und worum es geht. Der Autor verwendet Symbole und  Analogien, ohne dass dies konstruiert oder aufgesetzt wirkt. Er weckt für keine der handelnden Personen besondere Sympathien, aber es gelingt ihm, ihre für die Umgebung wie die Leserin überraschenden Entscheidungen verständlich zu machen. Ein unaufgeregtes, aber schonungsloses Portrait eines Mannes und eines Landes im Umbruch und einer jungen Frau, die weiß, wie sie diesen Umbrüchen begegnen möchte.

J.M. Coetzee, Disgrace. Vintage Books London 2000. 220 Seiten.

In Deutscher Übersetzung von Reinhild Böhnke: Schande. FISCHER Taschenbuch 2001. 288 Seiten. 

Vom Überqueren der Flüsse

Wenn die Reisbauern des Mekong-Deltas in ein anderes Dorf oder auf den Markt gehen wollten, dann führte ihr Weg sie über monkey bridges, nur aus Bambusgeflechten auf Pfeilern bestehende Übergänge.

The secret of such crossings lies in the ability to set aside the process itself in favor of seeing the act whole and complete. It could be dangerous, of course. But we had no other bridges, and rivers had to be crossed, so why not pretend we could do it with instinct and ease? (S. 179)

In Monkey Bridge erzählt Lan Can eine Geschichte, die zahlreiche Elemente ihrer eigenen enthält. Die vierzehnjährige Mai Nguyen kommt aus Südvietnam in die Vereinigten Staaten und lebt  einige Monate bei einer befreundeten amerikanischen Familie, bis ihre Mutter Thanh unmittelbar vor der Machtübernahme der Kommunisten am 30. April 1975 ebenfalls die Heimat verlässt. Mais Großvater, Baba Quan, ein Reisbauer aus dem Mekong-Delta, bleibt in Vietnam zurück. Durch die vollkommen neue Lebenssituation stellt sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter auf den Kopf: Mai, die sich gut zurecht findet und aufs College gehen möchte, übernimmt die Verantwortung für ihre Mutter, die mit ihrem Herzen  in Vietnam geblieben ist. Die monkey bridges sind das Symbol für die Wege, die die beiden Frauen auf ihrem Weg in die Zukunft zu beschreiten haben, denn „die Flüsse müssen überquert werden.“ (S. 179, eigene Übersetzung)

Meine Meinung: Lan Cao, heute Professorin für Internationales Recht an verschiedenen amerikanischen Universitäten, teilt ihr Schicksal mit hunderttausenden Exil-Vietnames*innen. 1961 als Tochter eines südvietnamesischen Vier-Sterne-Generals in Saigon geboren, hat sie sich nach der Flucht ihrer Familie in den USA ein erfolgreiches Leben aufgebaut, während die alte Heimat in einer der vietnamesischen Communities der neuen Heimat weiterlebt. Ich war vor vielen Jahren Gast bei einer Hochzeit in der mit über 189.000 Mitgliedern größten dieser vietnamesischen Communities in den USA,  Little Saigon in Orange County, Kalifornien, und habe noch heute Bilder von Scharen sich lebhaft unterhaltender vietnamesischer Tanten und Cousinen in einer typisch amerikanischen Shopping Mall bei der Anprobe der traditionellen Tracht für die vietnamesische Braut und den amerikanischen Bräutigam vor Augen. Glückliche, zufriedene Menschen, dachte ich, die es geschafft haben, den Schrecken des Krieges zu entkommen und sich ein glückliches, zufriedenes Leben in einer neuen Welt aufzubauen, begleitet von den Traditionen der alten Heimat, aber vollkommen selbstverständlich auch in der neuen zu Hause. Offenbar hatten sie die monkey bridges erfolgreich überquert. 

Die Geschichte davon, wie Mai Nguyen es über die Brücke schafft, beginnt in einem anderen Little Saigon, jenem in Arlington, Virginia, in der Nähe von Washington D.C. Sie erzählt aber nicht nur von den glücklichen Momenten, sie zeichnet auch und vor allem ein Bild der Spannungen und inneren Konflikte, die ein Lebensweg mit sich bringt, der in einer traditionsbewussten Welt in Südostasien beginnt, in der Kolonialismus und Krieg nicht notwendigerweise den Alltag, aber die Zukunft der Menschen bestimmen. Die Autorin zeigt auch, dass die Konflikte nicht erst mit dem Krieg und der Flucht beginnen, sondern ihre Wurzeln schon im Feudalsystem des Ursprungslandes haben. 

Der 1997 erschienene Roman gilt als erstes literarisches Werk, in dem sich eine vietnamesisch-amerikanischen Autorin mit den Erfahrungen des Krieges und seinen Nachwirkungen auseinandersetzt. In diesem Sinne ist der Roman sicher politisch relevant, und ich habe eine Idee davon bekommen, was der Amerikanische Krieg, wie er im Land genannt wird, für die Bewohner Südvietnams bedeutet hat. Darüber hinaus ist es aber auch die spannende Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung zwischen zwei Kulturen, auch wenn die Erzählweise für mich machmal einen etwas zu pathetischen Grundton hatte.

In ihrem zweiten, 2014 erschienen Roman The Lotus and the Storm beschäftigt sich die Autorin nochmals mit der Geschichte ihrer beiden Heimatländer. Der Verlag hat diesen Titel als „erstes Portrait des Vietnamkriegs aus Sicht einer vietnamesisch-amerikanischen Autorin“ beworben. Die Bestellung ist schon draußen. 

Lan Cao, Monkey Bridge. Penguin Books 1998. 260 Seiten.

Ein Brite in Saigon

In weniger als vier Woche werde ich nach Hanoi fliegen, um von dort aus gemeinsam mit einer Freundin eine Fotoreise durch Vietnam zu machen. Damit wird es höchste Zeit, die schon seit Monaten auf dem SuB wartende passende Lektüre in Angriff zu nehmen. Der erste Titel auf meiner Liste ist ein erstmals 1955 veröffentlichter Klassiker, The Quiet American (Der stille Amerikaner) von Graham Greene. Der britische Autor verarbeitete darin die während seiner Vietnam-Aufenthalte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre gesammelten Eindrücke und Erfahrungen. Laut seinem Biographen Michael Shelden trug er aber nicht nur Material für seinen Roman zusammen, schrieb Reportagen für das Life Magazine und machte Interviews, unter anderem mit dem kommunistischen Diktator Ho Chi Minh, sondern arbeitete auch für den britischen Geheimdienst, konsumierte reichlich Alkohol und Opium, vertrieb sich die Zeit im Bordell und begab sich absichtlich an möglichst gefährliche Kriegsschauplätze, in der Hoffnung, dort sein Leben auszuhauchen, um damit seiner in Großbritannien verbliebenen Geliebten Catherine Crompton Walston das Herz zu brechen. Nachzulesen ist das alles in Kapitel 19 von Sheldens leider nur antiquarisch und auf Englisch erhältlicher Biographie Graham Greene: The Man Within. 

Der Brite Thomas Fowler ist in der letzten Phase des Indochinakriegs, in dem die Franzosen ihre Kolonie gegen die kommunistische Việt Minh  zu verteidigen versuchen, als Kriegsberichterstatter in Saigon tätig und wartet eines Abends vergeblich auf den viele Jahre jüngeren amerikanischen Handelsdelegierten Alden Pyle, der ihm Monate zuvor seine vietnamesische Geliebte Phuong ausgespannt hat. Nachdem klar geworden ist, weshalb Pyle nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschienen war, erinnert sich Fowler an dessen Ankunft in Saigon und die Geschehnisse danach.Weiterlesen »