The Poet’s Twins

Stratford-upon-Avon im Jahr 1596. Der 11-jährige Hamnet braucht  Hilfe. Seine Zwillingsschwester Judith liegt mit Fieber und Beulen am Hals im Bett und fühlt sich von Minute zu Minute elender, aber der einzig Greifbare ist der Großvater, und der cholerische Handschuhmacher wartet nur auf eine Gelegenheit, um den Enkel seinen Zorn fühlen zu lassen. Hamnets Mutter ist außerhalb der Stadt bei ihren Bienenstöcken, und obwohl sie die Gefahr spürt, rettet sie einen Schwarm verirrter Bienen, bevor sie sich auf den Heimweg macht. Auch sein Vater ist nicht da. Er ist als Stückeschreiber im fernen London sehr erfolgreich, besucht seine Familie aber nur alle paar Monate. Die Frau des Apothekers will dem Jungen ebenfalls nicht helfen, denn seine früher angesehene Familie zählt nicht mehr viel. Zu undurchsichtig sind die Geschäfte des Handschuhmachers, zu wenig Frömmigkeit lassen er und auch seine als seltsam bekannte Schwiegertochter erkennen. Als diese endlich nach Hause kommt, bietet sie alle ihre mentalen Kräfte und Heilkünste auf, um die Tochter nichts ins Jenseits hinüber gleiten zu lassen, übersieht dabei aber die Gefahr für ihren Sohn.

Meine Meinung: In  Hamnet, einem der 6 Titel auf der Shortlist des #Women’s Prize for Fiction 2020, erzählt Maggie O’Farrell, wie es dazu gekommen sein könnte, dass der größte Dramatiker aller Zeiten seinen verstorbenen Sohn zur Titelfigur seines berühmtesten Stücks gemacht hat. Der Name des Dichters wird dabei kein einziges Mal erwähnt, und das ist nur logisch, denn im Zentrum stehen weder er noch seine Werke. Statt dessen geht es vor allem darum, wie das Leben und der Alltag für Frauen im Elisabethanischen England ausgesehen hat, welchen Regeln und Einschränkungen sie unterworfen waren, mit welchen Gefahren sie fertig werden mussten und welchen Preis sie für ein bisschen Individualität zu bezahlen hatten. Lesen und Schreiben lernen nur die wenigsten, bei jeder Geburt riskieren sie ihr Leben, und ihre Geschicke bestimmen die Väter und Brüder. Die Frauen in dieser Erzählung sind Hamnets Mutter, seine Großmütter und seine Schwestern. Maggie O’Farrell erzählt uns die ganze Geschichte der Familie, lässt uns dabei sein, wie Agnes Hathaway schon als Kind das Schicksal anderer erahnen kann und den Alltag mit ihrer Stiefmutter und ihren jüngeren Geschwistern meistern muss, nachdem ihr Vater verstorben ist, bis sie dem um 8 Jahre jüngeren Sohn des Handschuhmachers begegnet und mit ihm ein Kind zeugt, um ihn heiraten zu dürfen. Als naturverbundene Seele hat sie es in der Henley Street in Stratford nicht leicht, sich mit dem gewalttätigen Schwiegervater und der resoluten Schwiegermutter zu arrangieren, und erkennt, dass ihr Mann hier nicht glücklich werden kann, sie aber ihrer jüngeren Tochter zuliebe bleiben muss. Als es trotzdem zur Katastrophe kommt, ringt das Paar viele Meilen voneinander entfernt und unter vollkommen unterschiedlichen Lebensbedingungen ums emotionale Überleben. 

Der Autorin entwickelt auf Basis der wenigen bekannten biographischen Daten der Eheleute und detaillierter Kenntnisse über das Leben im England um 1600 eine lebendige und glaubwürdige Fiktion einer Liebesgeschichte, die Daisy Donovan  eindrucksvoll liest. 

Maggie O’Farrell, Hamnet, als Audiobook gelesen von Daisy Donovan, Tinder Press 2020, 10 h 31 min. 

In deutscher Übersetzung von Anne-Kristin Mittag: Judith und Hamnet, für Oktober 2020 bei Piper angekündigt. 

Easter Comfort Reading

Osterferien im Lockdown, mehr entspanntes Zuhausebleiben als mir lieb ist, aber auch eine tolle Gelegenheit, Dinge zu tun, für die ich unter anderen Umständen keine Zeit gefunden hätte: eine Playlist mit den All-time-favourites erstellen, ein ausführliches Telefonat mit den besten Freund*innen aller Zeiten führen, den Kleiderschrank von unten nach oben und wieder zurück kehren, die Lieblingsrezepte sichten und diesmal tatsächlich auch nachkochen, wieder einmal in Peter Ackroyds Shakespeare-Biographie hineinlesen und nach einer sehr langen Pause endlich einen neuen Blogbeitrag schreiben. Shakespeare passt immer, und einer seiner schönsten Texte ist für mich der Prolog zu Romeo & Julia:

Two households both alike in dignity

In fair Verona, where we lay our scene,

From ancient grudge break to new mutiny,

Where civil blood makes civil hands unclean.

From forth the fatal loins of these two foes

A pair of star-cross’d lovers take their life; 

Whose misadventur’d pitious overthrows

Doth with their death bury their parents‘ strife.

The fearful passage of their death-mark’d love,

And the continuance of their parents‘ rage,

Which, but their children’s end, nought could remove,

Is  now the two hours‘ traffic of our stage;

The which if you with patient ears attend,

What here shall miss, our toil shall strive to mend.

Der Ausgang der Geschichte ist also schon vorweggenommen, bevor auch nur ein Montague oder ein Capulet die Bühne betreten hat, und gleichzeitig gelingt es dem Old Bard in den letzten Zeilen dieses Vorworts, dem Drama mit Leichtigkeit zu begegnen. Das zeitlich unbegrenzte Nachspüren der greatest love story of them all hat mich auch über eine deutsche Übersetzung stolpern lassen, die dem englischen Text im Gegensatz zu anderen Übersetzungen zumindest annähernd das Wasser reichen kann. Die  „ganz vorzügliche und höchst beklagenswerte Tragöde von Romeo und Julia“ wird in der Übersetzung von Frank Günther aus dem Jahr 1995 – wieso kannte ich die  eigentlich nicht? – so eingeleitet:

Zwei Häuser, beide gleich an Rang und Stand

Hier in Verona, wie ihr’s gleich erlebt,

Entfachen alten Hass zu neuem Brand,

Bis Bürgerblut an Bürgerhänden klebt.

Vom unheilschwangren Schoß der Feinde sprießt

Ein Liebespaar, von bösem Stern bedroht,

Sein elend unglücklicher Sturz beschließt,

Den Streit der Eltern mit dem eignen Tod.

Der Liebe Todesglanz, ihr Leidensgang,

Und wie der Eltern langer Haß zerfiel

Und erst im Tod der Kinder spät verklang,

Zeigt euch zwei Stunden unser Bühnenspiel;

Und wir, wobei wir sehr auf Nachsicht zählen,

Wolln das verbessern, was dem Text mag fehlen.

414PishM6pL._SX312_BO1,204,203,200_Da fehlt gar nichts, und wer so wie ich auch nach diesem Wochenende noch den einen oder anderen Tag unfreiwillig zuhause bleiben wird, hat daher vielleicht Zeit und Lust,  die bei dtv erschienene zweisprachige Ausgabe zu lesen. Man kann auch zu einer Verfilmung greifen: Entweder zu Franco Zeffirellis Version aus dem Jahr 1969, oder aber zur auch nicht mehr ganz neuen Fassung von Buz Luhrmann mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Während Zeffirelli Shakespeare so in Szene setzte, wie der Autor es sich vielleicht gewünscht hätte, nämlich mit einer 15-jährigen Julia (Olivia Hussey) und einem 17-jährigen Romeo (Leonard Whiting) in bunten period costumes, zeigt Fuhrmann, was der Text ziemlich genau 400 Jahre nach der ersten gedruckten Veröffentlichung von 1597 immer noch hergibt, indem der Regisseur ihn unverändert, aber im MTV-Look auf eine Zeitreise nach Verona Beach, New York, schickt.

Comfort Watching also anstelle von Comfort Reading, aber immer nur zuhause wird trotzdem irgendwann unerträglich, und daher habe ich mich, auch wenn es unserem p.t. Bundeskanzler gar nicht recht gewesen wäre, irgendwann auf den Weg gemacht, um die Stadt so einzufangen, wie ich sie – hoffentlich – nicht so schnell wieder zu Gesicht bekommen werde: menschenleer. Don’t get me wrong: Die Touristenmassen, die sich mittlerweile zu jeder Jahreszeit durch jede Hauptstadt dieser Welt drängen, sind ganz und gar nicht nach meinem Geschmack, und oft habe ich sie zum Kuckuck gewünscht, wenn ich einen Samstagnachmittag in der City genießen oder einfach nur eiligen Schrittes zu einem beruflichen Termin wollte, ohne ständig in einen Selfie-Stick zu laufen. Aber Ausgangs- und Versammlungsverbot? Schon mal etwas von Grundrechten gehört? Und außerdem: Keine Buchhandlungen? Aus Gesundheitsgründen? What the f***???  

Es war ein langer Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen: mit dem Auto in die Wiener Innenstadt, nur meine Kamera und ich, kein Händeschütteln, keine Küsschen, keine unerlaubte Annäherung jedweder Art, lediglich ein kurzer Besuch (mit Schutzmaske) in einem französischen Feinkostladen, der im normalen Leben Köstlichkeiten nicht nur verkauft, sondern auch serviert. Hier einige Eindrücke von einem Stadtbummel, der mir im Gedächtnis bleiben wird:

 

Grown-Ups-667x1024Wieder Zuhause wurde es Zeit für Comfort Listening. Keine Familienfeiern? – Okay, ich bin ja durchaus kompromissbereit, also: Familienfeier im kleinsten Kreis. Aber auch die muss vorbereitet werden. Der britische Buchblogger Savidge, von dem ich auch den Titel für diesen Beitrag geklaut habe, lieferte die richtige Anregung für ein Hörbuch als Begleitung beim Ostereierfärben. Sein März 2020-Video erinnerte mich an eine Autorin, die für mich seit langem eine Garantin für Feel Good-Reads nach meinem Geschmack ist, genau das Richtige für eine Zeit, in der die gute Laune leicht abhanden kommen kann, sobald das Handy die neuesten News liefert. In ihrem jüngsten Roman Grown Ups erzählt Marian Keyes, was passiert, als Cara Casey bei der Geburtstagsfeier ihres Schwagers Johnny nach einem Schlag auf den Kopf plötzlich beginnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Mit dem Geburtstagskind am Tisch sitzen auch Caras gutmütiger Ehemann Ed, ihr egozentrischer Schwager Liam mit seiner um vieles jüngeren Ehefrau Nell sowie der Casey-Nachwuchs, der alle Tugenden und Untugenden der Millenials vor Augen führt, während Johnnys Ehefrau Jessie, erfolgreiche Geschäftsfrau und ganz nebenbei auch noch fünffache Mutter, wie immer bei solchen Gelegenheiten in der Küche das perfekte Geburtstagsessen aus dem Hut zaubert. Die Powerfrau schafft das alles problemlos. Das glauben zumindest alle – bis Cara den Mund aufmacht…

Meine Meinung: Bisher habe ich alle Romane der irischen ChickLit-Autorin mit großen Vergnügen gelesen, und mit Grown Ups zeigt Marian Keyes wieder, wie man ernsthafte Themen in einen Unterhaltungsroman verpacken kann, ohne das Problem zu banalisieren oder ihre Leser*innen zu langweilen. Diesmal geht es vor allem um Bulimie, aber auch ihren Standpunkt zum Umgang ihres Heimatlandes mit Asylsuchenden macht die Autorin anhand einer ihrer Figuren klar. Die junge Syrerin Pearl lässt sie darüber hinaus Worte finden, die auf ein Problem aufmerksam machen, dem wohl nicht nur ich bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe: Period Poverty beschreibt die Tatsache, dass in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Frauen meist das Geld für Hygieneprodukte fehlt. So schwerwiegend all diese Probleme auch sind, Marian Keyes macht daraus leichtfüßige Unterhaltung, die von Situationskomik und Sinn für die Absurditäten des Alltags lebt. Eine deutsche Übersetzung ist leider noch nicht verfügbar, aber das englische Original ist mit mittelprächtigen Englischkenntnissen durchaus zu bewältigen. Die Hörbuchversion liest die Autorin selbst, und auch wenn die Übergänge zwischen einzeln aufgenommenen Passagen manchmal etwas holprig sind, Marian Keyes findet für jede ihrer Figuren die passende Tonart, und ihre Lesung der Beschreibung eines Familienwochenendes des Casey-Clans in einem Murder Mystery-Hotel  könnte auch als Comedysketch bestehen. 

Marian Keyes, Grown Ups, Michael Joseph Publishers 2020, 656 Seiten.

Als Hörbuch gelesen von der Autorin, Whole Story Audiobooks 2020, 17 h 3 min.

William Shakespeare, Romeo & Julia, Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Frank Günther. dtv Verlagsgesellschaft 1998, 304 Seiten. 

Hogarth Shakespeare – Halloween Special

‚The Scottish Play‘, so nennen abergläubische Theaterleute Shakespeares Macbeth,  denn es bringt Unglück, den Titel der von Hexen und irren Mördern erzählenden Geschichte über den Kampf um die schottische Krone auszusprechen. Der norwegischen Krimiautor Jo Nesbø, Schöpfer des alkoholkranken Mordermittlers Harry Hole, hat das 1611 uraufgeführte Stück nun im Rahmen des Hogarth Shakespeare Project bearbeitet. Die deutsche Übersetzung  Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt basiert nicht auf dem norwegischen Original, sondern folgt der englischen Übersetzung von Don Bartlett und wurde im seit kurzem auch auf Deutsch publizierenden Penguin Verlag veröffentlicht, dem ich herzlich für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars danke!

Nesbø siedelt seine Geschichte in einer heruntergekommenen Industriemetropole irgendwo im Norden an, in der es nur drei Geschäftszweige gibt, in denen man noch reich werden kann: die Casinos, die Drogen und die Politik (S. 10). Polizist Macbeth und seine Truppe können durch ihr Eingreifen eine von Macbeths Jugendfreund und Kollegen Duff geleitete Aktion gegen den Drogenhändler Sweno und seine Norse Riders retten. Daraufhin wird nicht wie erwartet Duff, sondern Macbeth vom neuen Chief Commissioner Duncan zum Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität ernannt. Aber Macbeths Geliebte Lady reicht das nicht: Die Casinobesitzerin möchte ganz nach oben, und sie weiß, wie sie den Mann an ihrer Seite dazu bekommen kann, alles für dieses Ziel zu tun.

Meine Meinung: Bei Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt ist genau das drin, was der Titel verspricht, und das macht die Geschichte zur perfekten Unterhaltung für alle, die sich zu Halloween einmal ganz ohne Vampire gruseln wollen. Da es mein erster Nesbø ist, kann ich nicht beurteilen, ob die dargestellte Brutalität die seiner anderen Krimis übertrifft oder sich nahtlos in eine Reihe damit stellt, aber in jedem Fall hat der Autor hier ganz tief in den Topf mit der Aufschrift ‚Blutoper‘ gegriffen und alles herausgeholt, was darin zu finden war. Keine tiefgründigen psychologischen Erklärungen für die Morde, sondern Machtgier, Sex, Drogen und aus kranker Loyalität und Logik ausgeübte Gewalt, das alles mit Dialogen wie aus einem Opernlibretto und vor einer Kulisse, in der es abwechselnd regnet und nach Exkrementen stinkt und in der auch die Luft tötet.  

Bei einer richtigen Oper weiß man meist, wie es ausgehen wird, aber man verzeiht die dick aufgetragenen Posen und vorhersehbaren Wendungen, wenn nur der Komponist sein Handwerk versteht und die Töne richtig getroffen werden. Beides ist hier der Fall. Die Figuren sind zwar stereotyp, aber in ihrer Rolle glaubwürdig, und die Story wird packend erzählt. Was mich allerdings etwas irritiert hat, ist die nur vage Festlegung in Raum und Zeit: Eine Stadt im Norden Großbritanniens (?), in der sich Politik, Polizei und organisiertes Verbrechen die Macht aufteilen, 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (?). Der Roman bekommt dadurch den Anstrich einer Dystopie, aber wenn das beabsichtigt war, dann hat sich der Autor mit diesem Anspruch dann doch ein bisschen übernommen. Da helfen auch philosophische Gespräche mit Anspielungen an Adam Smiths Wirtschaftstheorie der „Unsichtbaren Hand“ nicht, vor allem, wenn der Philosoph dann noch vollkommen unerklärlicherweise verklausuliert als Adam Hand eingebaut wird (S.29). Viel besser gefallen hat mir die Umsetzung des Motivs der drei Hexen, des berühmtesten Beispiels einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung in der Literatur: Diese lässt Nesbø als „drei Schwestern“ auftreten, mit allen dazugehörigen Assoziationen und ganz ohne schwarze Magie. 

Ich denke, wer das Genre und/oder den Autor mag wird den Extrakick des Shakespeare-Plots nett finden und sich beim Lesen gut unterhalten, aber eine in die Tiefe gehende moderne Deutung des alten Stoffs, wie das etwa  Edward St. Aubyn mit Dunbar und seine Töchter für King Lear gelungen ist, sollte man nicht erwarten. Eher ist es ein gut getunter Mix aus Sex & Drugs & Crime, leichte Kost für graue Herbsttage.

Weitere Besprechungen des Romans gibt es von Jane auf zeilenliebe und auf Safia’s Bookblog.

Jo Nesbø, Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt. Aus dem Englischen von André Mumot. Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH München 2018. 621 Seiten.

Shakespeare and Co.

Ende August erscheint die deutschsprachige Übersetzung von Jo Nesbos Macbeth, aber bevor ich diesen siebten Teils des Hogarth Shakespeare Projects in Angriff nehme, wollte ich endlich den ersten Teil lesen. Der weite Raum der Zeit (The Gap of Time) ist Jeanette Wintersons Version von Das Wintermärchen (The Winter’s Tale). Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Knaus Verlag herzlich für das bereitgestellte Rezensionsexemplar bedanken!

Ihrer Cover-Version stellt die Autorin eine Inhaltsangabe des Originals voran und beginnt ihre Nacherzählung dann damit, dass der verwitwete Shep in La Bohemia, Louisiana, gemeinsam mit seinem zwanzigjährigen Sohn Clo zuerst mit dem Auto in eine Schießerei gerät und dann, einer Eingebung folgend, ein Baby aus einer Babyklappe hebt und mitnimmt. Zwischen dem Baby und der Schießerei besteht ein Zusammenhang, da ist Shep sich sicher.

Das Baby hat auch einen Namen, Perdita, und in der Folge erfahren wir, dass sie die Tochter des in London lebenden Investmentbankers Leo und seiner Frau MiMi ist. Kurz vor der Geburt des Mädchens war Leo vollkommen ausgerastet: von der fixen Idee besessen, Xeno, sein engster Freund seit der gemeinsamen Zeit im Internat, sei der Vater des Ungeborenen, hatte er MiMi aus dem Haus getrieben. Mit der irrwitzigen Vorstellung, auf diese Art vielleicht seine Ehe retten zu können, hatte Leo  dann seinen Angestellten Cameron beauftragt, den „Bastard“ außer Landes zu schaffen. Dank der Inhaltsangabe haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, wie es weitergehen wird.

Meine MeinungIm Interview erzählt Jeanette Winterson, selbst ein Adoptivkind, sie habe die Geschichte des Findelkindes Perdita schon ihr gesamtes Erwachsenenleben lang wie einen Talisman mit sich herumgetragen und sei von ihr getragen worden. Jetzt habe sie den Roman geschrieben, weil sie in ihrem Alter dazu in der Lage sein sollte, meint sie. Und sie ist dazu in der Lage. Im Laufe dieser lebenslangen Beschäftigung mit dem Text hat die Autorin wohl unzählige Ideen gesammelt, die nun in den Roman Eingang gefunden haben. Dieses Mosaik aus Regieeinfällen nach Shakespeare-Motiven, beispielsweise eine Szene in der Pariser Buchhandlung Shakespeare and Co, wirkte zu Beginn auf mich etwas konstruiert, aber dieser erste Eindruck verschwand sehr schnell.

Das bewusste Spiel mit der Zeit folgt Shakespeares Stück, in dem die Zeit als Chor auftritt. Game Developer Xeno erklärt das Prinzip:

In dem Spiel gibt es natürlich verschiedene Level. Im vierten Level kommt die Zeit als Spielerin dazu. Sie kann stehen bleiben, sich beschleunigen oder verlangsamen. Aber du spielst auch gegen die Zeit. Deshalb der Name des Spiels: ‚Der weite Raum der Zeit.‘ (S. 53) 

An anderer Stelle konkretisiert er seine Absicht:

„Ich möchte ein Spiel entwickeln, das wie ein Buchladen ist“, sagte Xeno. „Mit Poesie und einem echten Plot. Ein Spiel, in dem man die Chance hat, sich zu verlieren und sich wiederzufinden. (S.73)

„Ich will die Zeit in diesem Spiel kreisförmig denken – wie im Maya-Kalender. Jedes Level soll ein klar definierter, aber offener Zeitrahmen sein, in dem man als Spieler von einem anderen Level aus beobachtet werden kann.“ (S.73)

Im schon zitierten Interview weist Winterson darauf hin, dass das Original in Shakespeares späte Schaffensperiode fällt, in der er seine Frauengestalten anders als in früheren Stücken am Leben lies. Leo ist rasend eifersüchtig wie Othello, aber MiMi ist nicht Desdemona. Dadurch wird aus der Tragödie der ersten drei Akte eine Komödie, ein anderes Level also. Damit das gelingt, lässt Shakespeare den Gauner Autolycus auftreten. Dieser mutiert bei Winterson zu einem Autohändler, der von sich selbst sagt:

Bin zu ehrlich, um Geschäftsmann zu sein. Ich bin ein schlichter Gauner.“ (S.175)

Den Dialog, in dem Autolycus Clo erläutert, wie  die Tragödie des Ödipus durch einen Kreisverkehr abzuwenden gewesen wäre, fand ich ebenso witzig wie die Tatsache, dass er Clo einen DeLorean aufschwatzt.  Dass Shakespeares Stücke zeitlos sind ist ein Gemeinplatz, aber wer hätte gedacht, dass sich ein Wagen aus Zurück in die Zukunft ebenso gut einfügt wie ein Motiv aus einem Superman-Film oder Textzeilen aus Hits der 50er- bis 80er-Jahre. Auch hier bleibt der Roman Shakespeare treu: dieser lockerte sein Stück mit sechs Gesangs- und zwei Tanzeinlagen auf, wie Peter Ackroyd in Kapitel 85 seiner Shakespeare-Biographie anmerkt. Die Liste der Parallelen zwischen Stück und Roman ließe sich bei gründlicher Recherche bestimmt noch lange fortsetzen, aber dann wäre es mit dem sich Verlieren wohl vorbei und der Spaß verdorben, daher zum Schluss nur noch eine Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Sabine Schwenk ist eine Übersetzung gelungen, der man die Übersetzung nicht anmerkt. Spaß gerettet.

Weitere Besprechungen des Romans gibt es von Frau Lehmann, bei kill monotony, auf dem paper and poetry blog, und von Maike auf herzpotential.

Jeanette Winterson, Der weite Raum der Zeit. Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Schwenk. Albrecht Knaus Verlag München 2015. 383 Seiten. 

Als Taschenbuch im englischen Original: The Gap of Time: The Winter’s Tale Retold. Vintage Books London 2016. 320 Seiten.

 

Edward St. Aubyn & King Lear

20180106120227_IMG_0141Wenn es um Literatur geht, habe ich immer das Gefühl, mehr zu versäumen als mitzunehmen, und heute bin ich wieder über ein Puzzlestück gestolpert, das ich fast übersehen hätte. Eine der besten Informationsquellen zum Thema englischsprachige Literatur ist der Guardian Books Podcast, und in der Folge vom 19. Dezember geht es nicht nur um die Zukunft der Literatur im Allgemeinen, sondern auch um einen prominenten Autor und seine neueste Veröffentlichung: Edward St. Aubyn liest aus Dunbar (auf Deutsch: Dunbar und seine Töchter), seiner Version von Shakespeares King Lear. Ich durfte den Roman als Vorabexemplar des Verlags lesen und habe ihn zum Erscheinungstermin vorgestellt (King Lear als Medienmogul), der Podcast liefert jetzt einige Ausschnitte daraus, vom Autor gelesen, und interessante Anmerkungen St. Aubyns zu seinen Überlegungen bei der Auswahl des Stoffes und bei der Gestaltung der Charaktere. Für alle, die die vom Autor gelesenen Stellen gerne auf Deutsch mitlesen wollen: Die Ausschnitte finden sich in der deutschen Ausgabe ab Seite 143 und ab Seite 93.

Edward St Aubin, Dunbar und seine Töchter. Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen. Albrecht Knaus Verlag München 2017, 253 Seiten. Ich danke dem Knaus-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.

Im Englischen Original: Dunbar. Hogarth 2017, 224 Seiten.