#EcoLesen #2 – Gedächtnisübungen

Manchmal ist ein schlechtes Gedächtnis eine gute Sache. Beispielsweise ermöglicht es Buchliebhaber*innen, Bücher in gebührendem zeitlichem Abstand immer wieder zu lesen und Freude daran zu haben als wäre es das erste Mal. Ich kann mich vage daran erinnern, was der Grund für die Verbrechen in Umberto Ecos Der Name der Rose und wer der Mörder war, aber die Details schwimmen irgendwo im Indischen Ozean (siehe Beitrag #1). Für Filme habe ich ein noch schlechteres Gedächtnis als für Bücher, daher hat William von Baskerville beim Wiederlesen das verschmitzt kluge Gesicht eines schon angegrauten Sean Connery, und Adson hat die süße Unbeholfenheit eines noch sehr jungen Christian Slater, das war’s aber auch. Das mittelalterliche Ermittlerteam spricht bei mir aber offensichtlich stattdessen das kollektive Gedächtnis an, denn obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, jemals eine Sherlock Holmes-Geschichte gelesen oder einen Film gesehen zu haben (oder habe ich doch…?) sind die Parallelen zu ihren offensichtlichen Namensgebern auch für mich unübersehbar, und ich finde es sehr amüsant, wie Eco mit diesen Motiven spielt. Ich kann natürlich wenig dazu sagen, wie Arthur Conan Doyle seine berühmte Figur als vornehm-kultivierten britischen Detektiv und Dr. Watson als Mischung aus größtem Fan und rechter Hand portraitiert, aber was wir schon am ersten Tag über den Franziskanermönch William erfahren, ist auch jenseits von Analogien im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder ein gekonnter Einsatz der Zeichen, und es ist auch ein gekonnter Griff in die Geschichtsbücher. William reist in einer geheimen Mission von Kaiser Ludwig dem Bayern, steht also auf Seiten der weltlichen Macht, die sich mit Johannes XXII., dem ersten Papst, der von Avignon aus regiert, einen Schlagabtausch liefert. Im Kloster trifft er seinen alten Freund Ubertin von Casale. Dieser ist keine Erfindung Ecos, sondern war tatsächlich einer der Anführer der Spiritualen, die innerhalb des Franziskanerordens heftig gegen den Papst opponierten. Dieser Ubertin hatte einen Mitstreiter namens William of Ockham, geboren in der englischen Grafschaft Surrey. Der Franziskanermönch war Philosoph und Theologe und verfasste unter anderem Bücher zur Logik, Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Metaphysik. Er versuchte, sich aus politischen Konflikten herauszuhalten, wurde aber 1325 der Ketzerei angeklagt. Er wurde nie verurteilt und schloss sich, nachdem er freigekommen war, den papstkritischen Unterstützern des Kaisers an. Diese Details verdanke ich nicht einem enzyklopädischen Wissen über Geschichte oder akribischem Quellenstudium, sondern Wikipedia, der größten Gedächtnisstütze unserer Zeit. Die Möglichkeit, diese zu nutzen, hat mein Lesevergnügen nochmals erhöht, die Frage „Googeln oder nicht?“ hat sich für mich somit beantwortet, obwohl ich mir eigentlich anderes vorgenommen hatte.

Zurück zum Roman: Schon der intellektuelle Stunt mit dem entlaufenen Pferd im allerersten Kapitel lässt uns wissen: Hier ist ein Genie am Werk, das zollgenaues Augenmaß mit Menschenkenntnis zu verbinden weiß, um Rätsel zu lösen. Und die messerscharfe, aber doch vorsichtige Argumentation in theologischen Streitgesprächen, inklusive Insiderwissen dazu, wie man sich vor der Heiligen Inquisition verhält, um nicht Kopf und Kutte zu riskieren, lässt darauf schließen, dass Eco sich darüber Gedanken gemacht hat, wie der „echte“ William (William of Ockham) dem Scheiterhaufen entgehen konnte. So  erinnert sich William von Baskerville daran, wie er während seiner Tätigkeit als Inquisitor wohlweislich auf die Verwendung seiner Brille verzichtet hat:

Ich selbst musste mich in meiner früheren Tätigkeit bei Prozessen, bei denen es um den Verdacht des Umgangs mit dem Dämon ging, oft sorgsam vor dem Gebrauch dieser Linsen hüten und mir die Akten von Sekretären vorlesen lassen, um nicht in einer Zeit, in der die Präsenz des Teufels so nahe schien, daß alle schon sozusagen den Schwefel rochen, der Komplizenschaft mit dem Angeklagten verdächtigt zu  werden. (S. 116f)

Der kritische Denker, der lieber Thomas von Aquin und Roger Bacon zitiert als vor dem Teufel zu warnen, nutzt seine Klugheit und Bildung aber nicht nur, um Rätsel zu lösen und sich vor dem Verdacht der Ketzerei zu schützen, er verwendet sie auch als Ventil, um seinem Ärger Luft zu machen. Nachdem ihm der uralte blinde Jorge durch seine humor- und freudlose Frömmigkeit gehörig auf den Wecker gegangen ist und ihm dann noch ein lateinisches Zitat an den Kopf wirft, das keinen Widerspruch zu dulden scheint, knurrt William leise, aber doch hörbar:

Manduca, iam coctum est. (S. 126) (Im Anhang übersetzt mit: Beiß hinein, es ist schon gar!)

Vordergründig zitiert er damit einen Märtyrer am Scheiterhaufen und weiß dieses Zitat auch fromm zu deuten, aber es bleibt doch die Frage, wo der Alte hineinbeißen soll.

Begeistert haben mich aber nicht nur die versteckten Witze und ironischen Anspielungen (von denen es sicher viel mehr gibt als ich entdeckt habe), sondern natürlich vor allem die konkreten und weniger konkreten Beschreibungen der geheimnisvollen Bibliothek im Aedificium der Abtei: Diese sei die größte der christlichen Welt, sozusagen die einzige, die sich neben ‚den sechsunddreißig Bibliotheken von Bagdad, den zehntausend Handschriften des Ibn al-Alkami‘ (S.50) nicht verstecken müsse. Ein zarter Hinweis darauf, dass die Wiege unserer hochentwickelten Kultur etwas weiter östlich liegt als manchmal behauptet. Dass nur Malachias, der Bibliothekar, Zugang zu allen Büchern hat und nicht daran denkt, deren Geheimnisse mit William zu teilen, lässt vermuten, dass dort des Rätsels Lösung zu finden ist.

Jana stellt in ihrem ersten Beitrag zur Leserunde die Frage, wie es uns anderen mit den zahlreichen ungewohnten und daher leicht zu verwechselnden Namen geht. Meine Antwort: Liebe Jana, mir geht’s wie Dir, und meine Gedächtnisstütze sind Post-its an der Stelle im Buch, an der die Figur erstmals etwas Aufmerksamkeit bekommt.

Auch ich hätte noch eine Frage, und die können mir Sherlock Holmes-Fans vielleicht beantworten: William sieht es als seine Aufgabe, dem jungen Adson möglichst viel Wissen zuteil werden zu lassen, auch wenn es „gefährlich“ sein könnte, also erwähnt er bei einer Gelegenheit auch orientalische Gewächse, deren Genuss die Sinne beeinflusst, allerdings nicht ohne Adson sogleich darauf hinzuweisen, dass deren Verwendung für Christen tabu ist.  Ich kann mich dunkel daran erinnern, davon gehört zu haben, dass auch in der Baker Street  gelegentlich Substanzen konsumiert wurden, die die Sinne beeinflussen, oder war das nur irgendeine Persiflage? Könnt Ihr meinem Gedächtnis da auf die Sprünge helfen?

Umberto Eco, Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. (c)  Carl Hanser Verlag München 1982. Lizenzausgabe für die Deutsche Buch-Gemeinschaft. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. 

#EcoLesen #1 -Umberto Eco unter Palmen

Umberto Eco veröffentlichte Der Name der Rose 1980, die deutsche Übersetzung erschien 1982, und als ich den Roman 1985 als Urlaubslektüre einpackte, war es ein Buch, das man einfach gelesen haben musste. Ich verbrachte damit einen Großteil meiner Ferien und hatte meinen Spaß beim Lesen, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann, ob ich allen Details der Lösung des Kriminalrätsels folgen konnte. Wenn ich später an das Buch zurückdachte, tauchten aber nicht in erste Linie Bilder von kalten Novembernächten in einem finsteren mittelalterlichen Kloster auf, sondern von Palmen, Sonnenschein und türkisblauem Meer, und das fand ich irgendwie schade, so, als hätte ich das Buch nur halb gelesen. Daher war ich von Janas  Einladung zu einer Leserunde in ihrem Wissenstagebuch sofort begeistert. In nächster Zeit werdet Ihr hier also meine Gedanken zu „Umberto Ecos Name der Rose – revisited“ lesen können.  Janas erste Eindrücke sind pünktlich zum Start der Leserunde heute erschienen.

Ich bin über den Prolog noch nicht hinausgekommen, aber die ersten Seiten enthalten schon einiges Bemerkenswerte.

Das mit 5. Januar 1980 datierte Vorwort gibt so manchen augenzwinkernden Hinweis darauf, wie Eco an die Sache herangeht:

Der geneigte Leser möge bedenken: was er vor sich hat, ist die deutsche Übersetzung meiner italienischen Fassung einer obskuren neugotisch-französischen Version einer im 17. Jahrhundert gedruckten Ausgabe eines im 14. Jahrhundert von einem deutschen Mönch auf Lateinisch verfassten Textes. (S.10)

Die ‚obskure neugotisch-französische Version‚ sei ihm 1968, zur Zeit des Prager Frühlings, in die Hände gefallen, und er habe ‚gleichsam aus dem Stand eine Rohübersetzung angefertigt‚, während er, nach dem Einmarsch der Sowjets aus der CSSR geflohen, mit einer sehnsüchtig erwarteten Liebe von Wien aus über Melk (von dort stammt der deutsche Mönch) an den Mondsee bei Salzburg gereist sei, wo sich die Liebe gemeinsam mit dem Manuskript wieder verflüchtigt habe. Zurück blieb der Autor mit der Rohübersetzung, und ein Jahrzehnt später fühle er sich denn nun frei, auf Basis dieser Übersetzung des Adsonschen Mönchslateins (S.11) ‚aus schierer Lust am Fabulieren die Geschichte des Adson von Melk zu erzählen‘ (S.12)

Dass Mönchslatein ähnliche inhaltliche Besonderheiten aufweist wie Jägerlatein lässt sich natürlich nur vermuten, aber Eco, der Professor für Semiotik (Zeichentheorie), hat seine Zeichen ganz sicher nicht zufällig gesetzt, als er an die ‚Nachlässigkeit französischer Gelehrter bei der Angabe halbwegs zuverlässiger Quellenvermerke‘ erinnert (S.9) und Adson von Melk berichten lässt, er habe über die Landsleute des Franziskanermönchs William von Baskerville, an dessen Seite er als ‚blutjunger Benediktiner-Novize‘ seine Abenteuer erlebte, später gelernt, dass sie ‚häufig die Dinge in einer Weise zu definieren pflegen, in welcher das klare Licht der Vernunft keine allzu große Rolle spielt‘ (S.24).

Über die politische Korrektheit solcher Aussagen ließe sich heute (nicht) streiten, aber da ich darauf vertraue, dass auf den folgenden 620 Seiten die spitze Feder noch oft zustechen wird, ohne dass es allzu böse gemeint ist, werde ich nun der Anregung folgen, mit der Eco sein Vorwort schließt:

‚In omnibus requiem queasivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro‘, (Im Anhang übersetzt mit: ‚In allem habe ich Ruhe gesucht und habe sie nirgends gefunden, außer in einer Ecke mit einem Buch.‘)

Umberto Eco, Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. (c)  Carl Hanser Verlag München 1982. Lizenzausgabe für die Deutsche Buch-Gemeinschaft. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.