The Poet’s Twins

Stratford-upon-Avon im Jahr 1596. Der 11-jährige Hamnet braucht  Hilfe. Seine Zwillingsschwester Judith liegt mit Fieber und Beulen am Hals im Bett und fühlt sich von Minute zu Minute elender, aber der einzig Greifbare ist der Großvater, und der cholerische Handschuhmacher wartet nur auf eine Gelegenheit, um den Enkel seinen Zorn fühlen zu lassen. Hamnets Mutter ist außerhalb der Stadt bei ihren Bienenstöcken, und obwohl sie die Gefahr spürt, rettet sie einen Schwarm verirrter Bienen, bevor sie sich auf den Heimweg macht. Auch sein Vater ist nicht da. Er ist als Stückeschreiber im fernen London sehr erfolgreich, besucht seine Familie aber nur alle paar Monate. Die Frau des Apothekers will dem Jungen ebenfalls nicht helfen, denn seine früher angesehene Familie zählt nicht mehr viel. Zu undurchsichtig sind die Geschäfte des Handschuhmachers, zu wenig Frömmigkeit lassen er und auch seine als seltsam bekannte Schwiegertochter erkennen. Als diese endlich nach Hause kommt, bietet sie alle ihre mentalen Kräfte und Heilkünste auf, um die Tochter nichts ins Jenseits hinüber gleiten zu lassen, übersieht dabei aber die Gefahr für ihren Sohn.

Meine Meinung: In  Hamnet, einem der 6 Titel auf der Shortlist des #Women’s Prize for Fiction 2020, erzählt Maggie O’Farrell, wie es dazu gekommen sein könnte, dass der größte Dramatiker aller Zeiten seinen verstorbenen Sohn zur Titelfigur seines berühmtesten Stücks gemacht hat. Der Name des Dichters wird dabei kein einziges Mal erwähnt, und das ist nur logisch, denn im Zentrum stehen weder er noch seine Werke. Statt dessen geht es vor allem darum, wie das Leben und der Alltag für Frauen im Elisabethanischen England ausgesehen hat, welchen Regeln und Einschränkungen sie unterworfen waren, mit welchen Gefahren sie fertig werden mussten und welchen Preis sie für ein bisschen Individualität zu bezahlen hatten. Lesen und Schreiben lernen nur die wenigsten, bei jeder Geburt riskieren sie ihr Leben, und ihre Geschicke bestimmen die Väter und Brüder. Die Frauen in dieser Erzählung sind Hamnets Mutter, seine Großmütter und seine Schwestern. Maggie O’Farrell erzählt uns die ganze Geschichte der Familie, lässt uns dabei sein, wie Agnes Hathaway schon als Kind das Schicksal anderer erahnen kann und den Alltag mit ihrer Stiefmutter und ihren jüngeren Geschwistern meistern muss, nachdem ihr Vater verstorben ist, bis sie dem um 8 Jahre jüngeren Sohn des Handschuhmachers begegnet und mit ihm ein Kind zeugt, um ihn heiraten zu dürfen. Als naturverbundene Seele hat sie es in der Henley Street in Stratford nicht leicht, sich mit dem gewalttätigen Schwiegervater und der resoluten Schwiegermutter zu arrangieren, und erkennt, dass ihr Mann hier nicht glücklich werden kann, sie aber ihrer jüngeren Tochter zuliebe bleiben muss. Als es trotzdem zur Katastrophe kommt, ringt das Paar viele Meilen voneinander entfernt und unter vollkommen unterschiedlichen Lebensbedingungen ums emotionale Überleben. 

Der Autorin entwickelt auf Basis der wenigen bekannten biographischen Daten der Eheleute und detaillierter Kenntnisse über das Leben im England um 1600 eine lebendige und glaubwürdige Fiktion einer Liebesgeschichte, die Daisy Donovan  eindrucksvoll liest. 

Maggie O’Farrell, Hamnet, als Audiobook gelesen von Daisy Donovan, Tinder Press 2020, 10 h 31 min. 

In deutscher Übersetzung von Anne-Kristin Mittag: Judith und Hamnet, für Oktober 2020 bei Piper angekündigt. 

#Women’s Prize for Fiction 2019 – Der Trojanische Krieg aus Sicht der Briseis

In The Silence of the Girls erzählt Briseis, die ehemalige Königin von Lyrnessos, ihre Geschichte: Nachdem ihre Heimat im Trojanischen Krieg von den Griechen unter Agamemnon zerstört worden war, wurde sie, noch keine zwanzig und wunderschön, zur Kriegsbeute des Achilles. Gemeinsam mit den versklavten Mädchen und Frauen aus anderen unterworfenen Stadtstaaten lebt sie im Feldlager der Griechen vor Troja und fügt sich widerspruchslos in ihr Schicksal. Auf unterschiedliche Weise versuchen die Frauen, mit ihrer Situation zurechtzukommen, gemeinsam ist ihnen der Wille zu überleben. Die vielbesungenen griechischen Helden präsentieren sich dabei nicht als edle Kämpfer, sondern als rücksichtslose Chauvinisten, einzig Achilles‘ bester Freund Patrokles zeigt Mitgefühl für das Schicksal der Sklavinnen. Weiterlesen »

Prager Nächte

Der junge Gelehrte Christian Stern, unehelicher Sohn des Bischofs von Regensburg mit einer Dienstmagd, kommt im Dezember 1599 nach Prag, zu diesem Zeitpunkt Residenz des Heiligen Römischen Kaisers. Unter Rudolf II. ist die böhmische Hauptstadt ein Zentrum der Wissenschaft und der Alchimie, und Stern träumt davon, am Hof des Habsburgerkaisers sein Glück zu machen. In der Nacht seiner Ankunft stolpert er betrunken über die Leiche von Magdalena Kroll, der Tochter von Rudolfs Leibarzt. Der Fund bringt ihn zunächst in eine Kerkerzelle und dann ins Zentrum der Intrigen am Hof.Weiterlesen »

Blutiges Wien

In der vergangenen Woche lud die Buchhandlung Leo, die nur wenige Schritte vom Wiener Stephansdom entfernt großen Ketten und Internethändlern die Stirn bietet, zu einer Lesung, bei der die Autorin Alex Beer ihren zweiten Krimi, Die rote Frau, vorstellte. Meinen Bericht dazu findet ihr auf ChickLitScout.

Die rote Frau spielt im Wien des Jahres 1920, einer von den Folgen des Ersten Weltkriegs stark gebeutelten, ehemals glanzvollen Metropole, in der nun Hunger und Elend das Straßenbild prägen. Der Roman hat mich an einen anderen Krimi erinnert, dessen Schauplatz die selbe Stadt, kaum 20 Jahre früher, aber in einer vollkommen anderen Welt, ist, und diesen möchte ich euch heute vorstellen. Wiener Blut (im englischen Original Vienna Blood) ist der zweite Band einer im Englischen als Liebermann Papers erschienenen Serie. Sechs Bände hat der Brite Frank Tallis zwischen 2006 und 2011 veröffentlicht,  erst vor kurzem ist #7, Mephisto Waltz, erschienen und wird hoffentlich bald ins Deutsche übersetzt werden. Frank Tallis ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch klinischer Psychologe, und so werden die Mordfälle hier von einem Psychoanalytiker gelöst, dem jungen Dr. Max Liebermann, der, wie könnte es anders sein, ein Schüler von Sigmund Freud und regelmäßiger Gast bei diesem in der Berggasse 19 ist.Weiterlesen »

Weiße Häuser & First Ladies

Eleanor_Roosevelt_and_Lorena_Hickok_-_NARA_-_195609
Eleanor Roosevelt (2. von links) und Lorena Hickok (1. von rechts) 1933. Quelle: Wikimedia Commons

Jackie Kennedy kennt jede*r, ihre Nachfolgerin Lady Bird Johnson ist als hübscher Name in Erinnerung geblieben, Betty Ford gründete eine Klinik zur Behandlung von Alkohol- und Drogenkranken, und Hillary Clinton hat es geschafft, dass Bill heute nicht mehr als ehemals mächtigster Mann der Welt, sondern als ihr Ehemann  in den Nachrichten auftaucht.

Eine weitere der First Ladies, deren Namen ebenso geläufig sind wie die ihrer Ehemänner, ist Eleanor Roosevelt, die Ehefrau von Franklin D. Roosevelt, US-Präsident von 1933 bis 1945. Sie erfüllte alle Voraussetzungen für den bekanntesten und schlechtest bezahlten Job mit der Nase an der gläsernen Decke: tadelloses Auftreten, soziales Engagement, engelsgleiche Geduld und Nachsicht für die  Affären ihres Mannes. Nebenbei war sie auch eine erfolgreiche Menschenrechtsaktivistin und Diplomatin, und außerdem hatte sie eine jahrelange Affäre mit der Journalistin Lorena Hickok, im Freundeskreis Hick genannt.

In ihrem Roman White Houses lässt Amy Bloom  Hick von dieser Beziehung erzählen, davon, wie sie Eleanor Roosevelt zum ersten Mal begegnet war, davon, wie die beiden von der Öffentlichkeit unbemerkt und vom Ehemann mehr als nur geduldet ihre Liebe lebten, aber auch davon, wie sie sich lange vor ihrer Tätigkeit im Weißen Haus aus schwierigsten Verhältnissen ins Zeitungsbusiness hochgearbeitet hatte.Weiterlesen »