Val McDermid sitzt heute irgendwo und liest zum ersten Mal seit sieben Monaten ein Buch nur zum Vergnügen. Zumindest hat sie das in einem Interview angekündigt, das sie kurz vor der gestrigen Kür des Man Booker Prize 2018 der New York Times gegeben hat. Darin erfährt man einiges darüber, wie das Auswahlverfahren für den Literaturpreis abgelaufen ist. 171 Bücher hatten sie und die vier anderen Jurymitglieder bewältigt, bevor sie gestern Vormittag an einem geheimgehaltenen Ort in London zusammentrafen, um sich auf den Siegertitel zu einigen. Bei den Diskussionen hätte sicher so manche(r) gerne Mäuschen gespielt, denn die Juror*innen kamen aus sehr unterschiedlichen Bereichen: Da war eben die schottische Krimitautorin Val McDermid, der in London geborene und an der New York University tätige Philosoph Kwame Anthony Appiah, der Literatur- und Kulturkritiker Leo Robson, die am Birkbeck Institute for the Humanities der University of London lehrende Feministin Jacqueline Rose und die in New Yorks Greenwich Village lebende kanadische Künstlerin und Illustratorin Leanne Sharpton. Diese Zusammensetzung spiegelt sich auch in der Longlist wider, die neben ‚typischen‘ literarischen Werken auch einen Krimi (Snap von Belinda Bauer) und zum ersten Mal auch eine Graphic Novel (Nick Drnasos Sabrina) umfasste. Beide schafften es ebensowenig auf die Shortlist wie Sally Rooneys Lovestory Normal People oder Warlight, der neueste Roman von Michael Ondaatje, Gewinner des ebenfalls heuer verliehenen Golden Man Booker.

Auch wenn der Stundenlohn für den Lesemarathon vermutlich „unter dem Mindestlohn“ liegt, hat Val McDermid die Ehre nicht ablehnen können/wollen und viel Spaß dabei gehabt, sagt sie zu dieser „once in a lifetime“ Erfahrung. Die Autorin gibt zu, dass sie einige Bücher sehr rasch beseite gelegt habe, als ihr klar war, dass diese nicht in die engere Wahl kommen würden. Aber alle eingereichten Titel habe sie zumindest geprüft, und zwar die meisten davon als E-Book, um so von Äußerlichkeiten wie dem Cover möglichst unbeeinflusst zu bleiben. Alle hätten die durchnummerierten Bücher in ähnlicher Reihenfolge gelesen, und die Jury habe sich einmal pro Monat in einem Hinterzimmer irgendeines Restaurants getroffen, um etwa 30 bis 50 Titel zu besprechen. Titel, die bei einem Jurymitglied auf vollkommene Ablehnung stießen, wurden ausgeschieden, und jedes Buch in der nächsten Runde hatte zumindest 4 Unterstützer*innen. Nach Veröffentlichung der Longlist habe sie alle Titel darauf nochmals gelesen, und nach der Shortlist die Titel auf dieser dann ein drittes Mal. Besonders im Durchgang zwischen Longlist und Shortlist habe sie einige der Titel neu bewertet. Und auch auf ihr eigenes Schreiben habe die Erfahrung Auswirkungen gehabt: Die Leseliste hätte sie außerhalb die Bahnen ihrer üblichen Lektüre geführt und sie dadurch rastlos gemacht, weil eine Schriftstellerin immer auf der Suche nach Neuem sei, Elementen, die sie stehlen könnte, und solchen, die es zu vermeiden gelte.
Für Val McDermid endete das Auswahlverfahren mit drei Favoriten. Weitere Details verrät sie nicht. Der Siegertitel war schlussendlich Milkman von Anna Burns. Die Autorin wurde 1962 in einem katholisch dominierten Arbeiterbezirk von Belfast geboren, der Roman spielt, obwohl das nie explizit erwähnt wird, ebenfalls in der nordirischen Hauptstadt. Eine Besprechung des Romans liefert buchweiser. Zufall oder nicht, die Preisverleihung erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem Nordirland im Zentrum der verfahrenen Verhandlungen über den Brexit steht. Und auch wenn der Nordirlandkonflikt mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 beigelegt wurde, wer sich jemals auch nur in Ansätzen mit der Geschichte der zweigeteilten Insel beschäftigt hat, dem wird klar sein, dass jede Veränderung des Status quo an der jetzt grünen Grenze nichts Gutes bedeuten kann. Bisher ist dieses Thema meines Wissens noch nicht literarisch aufgearbeitet worden, aber das kann jetzt nicht mehr lange dauern. Vielleicht finden wir das Ergebnis ja schon auf der Longlist des Man Booker 2019, und vielleicht sind ja sogar die Holzköpfe, die das politische Chaos zu verantworten haben, bis dahin wieder zu Sinnen gekommen.
Anne Burns, Milkman. Faber & Faber 2018. 368 Seiten.
Toller Artikel! Danke auch fürs Verlinken 🙂
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Sehr gerne, danke für die interessante Rezension!
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Den Namen Robin Robertson werde ich mir mal merken und hoffen, dass „The Long Take“ auch ins Deutsche übersetzt wird. Klingt ganz nach meinem Geschmack. 🙂
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Bei den Man Booker-Titeln stehen die Chancen auf eine Übersetzung ganz gut, und meist werden dafür auch fähige Übersetzer*innen eingesetzt. Das ist in diesem Fall ganz sicher notwendig
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