Es kommt nicht oft vor, dass man einer Figur aus einem Roman im wirklichen Leben begegnet – ich hatte letzte Woche so eine Begegnung. Vinny, der Verkäufer, der mir in Charlie Byrne’s Bookshop in Galway dabei half, den Stapel Bücher, den ich ausgesucht hatte, möglichst kostengünstig nach Hause schicken zu lassen, ist der Vinny, der sich in Ken Bruens Headstone (Ein Grabstein für Jack Taylor) auf Seite 223 der englischen Ausgabe mit dem Titelhelden eine Zigarettenpause gönnt, nachdem dieser ihm eine Liste mit seinen Bücherwünschen präsentiert hat.
Zu diesem Zeitpunkt steckt Jack Taylor schon mitten in seinem neunten Fall. Dieser beginnt im Herbst 2009. Alkohol und Psychopharmaka sind zwar immer noch seine ständigen Begleiter, aber das Wetter ist warm und Jack freut sich auf das Wiedersehen mit seiner neuen Liebe Laura, einer amerikanischen Krimiautorin. Da kommt mit der Post eine Grabsteinminiatur, ein headstone, mit seinem Namen drauf, und was folgt ist eine Reihe von unerfreulichen Begegnungen mit schwarz gekleideten, gepiercten Jugendlichen, die scheinbar aus purer Langeweile sadistische Überfälle durchführen und auch miteinander nicht besonders liebevoll umgehen.
Auf den Spuren von….
Ken Bruens Jack Taylor-Romane haben mich von der ersten Seite an fasziniert. Abgesehen von ihrer literarischen Qualität hat das sicher auch damit zu tun, dass sie in Galway spielen, einem idyllischen Städtchen an der Westküste Irlands, in das ich mich bei meinem ersten Besuch sofort verliebt habe. Die Krimis sind von dieser Idylle allerdings weit entfernt. Jacks Welt ist grau und gewalttätig, Kirche und Polizei sind korrupt und wer heute ein Freund ist, kann morgen schon ein erbitterter Gegner sein. Was die Darstellung von Gewalt und Brutalität betrifft, könnte Quentin Tarantino hier noch etwas lernen.

Ich hatte Galway immer nur von seiner besten Seite kennengelernt: sonnig, adrett, freundlich, hipp. Jetzt nahm ich mir vor, mich auf die Suche nach dem anderen Galway zu machen, dem Galway des Jack Taylor. Das ist im Juli nur bedingt erfolgversprechend: strahlender Sonnenschein, die Lokale voller Touristen, exzellente Straßenmusiker, die für beste Laune sorgen, weiße Schwäne und abendliche Picknicks an der Mündung des River Corrib in die Galway Bay. Aber wenn man sich den Sommer und die vielen Touristen wegdenkt, findet man Galway genauso vor, wie Ken Bruen es beschreibt. Und auch wenn man den Bewohner*innen Galways den Wohlstand der beschaulichen Kleinstadt ansieht, Typen, denen Jack Taylor’sche Alkoholexzesse nicht ganz fremd sein dürften, sitzen an jeder Ecke. Wem das nicht authentisch genug ist, der kann entweder im November wiederkommen oder sich die in Galway gedrehte TV-Serie mit Iain Glen besorgen, die auf den Romanen beruht.

Aber auch Lichtblicke gibt es im Buch wie im wirklichen Leben unabhängig von der Jahreszeit. Die Bande, die Jack verfolgt, hat es vor allem auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen abgesehen. Diese sind in Galway, und in Irland im Allgemeinen, viel besser in die Gesellschaft integriert als in Mitteleuropa. Man trifft sie in Straßencafés, auf Festivals und als Straßenmusiker, und Jack Taylor riskiert sein Leben, um sie zu beschützen.

In Headstones wohnt der Privatdetektiv in Nun’s Island, einer nicht sehr ansprechenden Straße unterhalb der Galway Cathedral. Sein erstes Zusammentreffen mit der Jugendbande hat er vor der St. Nicholas‘ Collegiate Church. Weniger als 50 Schritte von einer der belebtesten Touristenmeilen entfernt steht man plötzlich ganz alleine vor der Kirche. Nimmo’s Pier, wo Jack in einem der letzten Kapitel noch eine Rechnung begleicht, ist auch im Sommer nicht gerade überbevölkert, und Charlie Byrne’s Bookshop ist zwar ein Ort der Superlative für Bücherfans, aber in dem weitläufigen Geschäft verlieren sich die Kund*innen, fast ausschließlich Einheimische, die wie Jack regelmäßig vorbeikommen und Vinny ganz offensichtlich genauso gut kennen wie er. Als ich erwähne, dass ich auf die Buchhandlung durch die Jack Taylor-Romane aufmerksam geworden bin, ist die Antwort nur ein freundliches Nicken. Das ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Iren: Sie lassen sich durch Prominenz, auch die eigene, nicht ein kleines bisschen beeindrucken.

Bruen lässt uns immer genau wissen, auf welchen Wegen sich Jack durch seine Heimatstadt bewegt und was ihm dabei durch den Kopf geht. Der mitten in der Wirtschaftskrise neu eröffnete TK Maxx am Prospect Hill, Garavan’s Bar in der William Street, vorbei am Meyrick Hotel am Eyre Square auf dem Weg zur großen Konfrontation mit seinen Verfolgern in der Forster Street. Die Orte gibt es alle wirklich, und unwillkürlich denkt man, auch Jack Taylor muss es wohl wirklich geben. Vermutlich verwendet er nicht einmal ein Pseudonym.
Ken Bruen, Headstone. Transworld Ireland 2012. 333 Seiten.
Als Hörbuch im englischen Original gelesen von Gerry O’Brien. Random House AudioBooks 2012. 4 h 54 min.
In deutscher Übersetzung von Harry Rowohlt: Ein Grabstein für Jack Taylor. Atrium Zürich 2013. 336 Seiten.
Auf Video: Jack Taylor Vol. 1, TV-Serie in 6 Episoden auf Basis der Romane von Ken Bruen . ZDF Enterprises 2013.
[…] Die Nachdenkliche Krankenschwester beschäftig sich mit Unendlichkeit. Mit Britlitscout geht es „auf den Spuren von Jack Taylor durch Galway“. Wittgensteins Tractatus Logico Philosophicus zerpflückt Bonaventura. Notizhefte entdeckt […]
LikeLike